Das I Ging und die westliche Systemtheorie

Wie hängt das I Ging mit der Systemtheorie zusammen?

Die Anordnung der Grundelemente im I Ging

In der Tradition des I Ging gibt es sehr verschiedene Anordnungen der Hexagramme, Trigramme und Linien. Sie werden aus der Entstehung und Logik der Linien abgeleitet, orientieren sich an den Autoren des Werkes, integrieren Elemente der kosmischen Ordnung oder bilden Beziehungen zwischen den Trigrammen und Hexagrammen ab. Diese klassischen Anordnungen gehen überwiegend von einer eher statischen, strukturorientierten Betrachtung aus.

Ausgehend von der westlichen Theorie der komplexen Systeme ordnen wir die Trigramme in einer neuen Entwicklungslinie und bezeichnen diese als Westliche Anordnung.  Sie eröffnet eine völlig neue Sicht auf das I Ging, da sie den vollständigen Lebenszyklus einer Fragesituation oder eines Frageobjektes zeigt:

Zyklus 1

Der neue Zyklus der Trigramme zeigt nicht nur die Dynamik der Trigramme, sondern auch den natürlichen Jahresablauf und das Wechselspiel von Yin und Yang. Die neue Anordnung unterscheidet sich damit grundlegend von den traditionellen Darstellungen.

Trigramme sind Systeme

Aus westlicher Sicht können die 8 Trigramme des I Ging als dynamische Systeme im Sinne der Komplexen bzw. Dynamischen Systemtheorie verstanden werden. Das I Ging in der chinesischen Tradition und das westliche Systemdenken sind wie die zwei Seiten derselben Medaille. Erstaunlicherweise ergeben sich nur geringfügige Abweichungen zwischen der westlichen Beschreibung der Dynamik von komplexen Systemen und den Bildern des Wandels in der chinesischen Kultur.

Modernes westliches System- und Zyklusdenken führt so zu neuen Einsichten in die Natur des I Ging und hilft beim Interpretieren von Befragungen. Es erschliesst sich seinerseits auf diesem Weg den uralten Reichtum an Kommentaren des I Ging zum Wandel in dynamischen Systemen.

Die 8 Trigramme (Ba Guà) repräsentieren in diesem Modell 8 verschiedene Systemtypen bzw. Systemzustände, deren gegenläufige Kräfte in Paaren auftreten:

  • ein warmes/heisses gegenüber einem kühlen/kalten System,
  • ein aufschwingendes gegenüber einem abschwingenden System,
  • ein stabiles gegenüber einem instabilen System,
  • ein offenes gegenüber einem sich schliessenden System.

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Worum geht es in der Theorie komplexer bzw. dynamischer Systeme?

Das Denken in Systemen und ihren Zusammenhängen und damit die Systemtheorie entstand – sehr verkürzt beschrieben – als Antwort auf die Umwälzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man begann über die vielen gegenseitigen Abhängigkeiten in der Natur, in unserer Gesellschaft und in unseren Werten nachzudenken. Die Atomphysik und insbesondere die Quantentheorie begannen auch außerhalb der Fachkreise die deterministischen Konturen des westlichen mechanischen Weltbildes aufzulösen. 

In den 50er und 60er Jahren realisierten die Forscher im Westen, dass viele Wirkungszusammenhänge viel komplexer waren als erwartet. Immer mehr waren sie mit der grundlegenden Unvorhersehbarkeit von Entwicklungen und Ereignissen in grossen und vor allem dynamischen Systemen konfrontiert. Bei der Simulation von Wetterprognosen auf Computern zeigte sich, dass minimale Veränderungen einer Annahme oder reine Rundungsdifferenzen bei Berechnungen zu ganz verschiedenen Resultaten führten. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sich die Theorie komplexer Systeme. Sie spielt heute bei der Simulation von dynamischen Prozessen eine wichtige Rolle. Ihre Inhalte sind in die Klimaforschung, die Soziologie, die Psychologie, in Techniken des Marketings und in viele andere Bereiche eingeflossen.

Was sind komplexe Systeme?

Die Modellierung komplexer und dynamischer Zusammenhänge ist eng mit der Entwicklung von leistungsfähigen Computern verbunden. Ihr Einsatz hat die Beschreibung von Veränderungen und ihren Bedingungen immer weiter aufgefächert. Nicht-lineare Prozesse, Mustererkennung, Klimaveränderungen, der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings in Brasilien, der einen Tornado in Texas auslöst, wurden zum Thema. Heute überwachen Computer die chaotischen Bewegungen an einem Pop-Konzert, um zu wissen, wo gefährliche Paniksituationen entstehen können. Selbst in der Produktion von Bio-Lebensmitteln ermitteln Rechner die richtigen Wasser- und Futtermengen auf der Basis von Daten und Mustern, die von den Sensoren im Boden und im Stall geliefert werden. 

Die Chaostheorie entstand und verlor sich in unendlichen fraktalen Darstellungen. Wir alle kennen die faszinierenden Darstellungen von Mandelbrot-Mengen, die sich in immer feinere Strukturen auflösen. Bei der Berechnung z.B. von Risikoszenarien bilden die nicht-linearen, stochastischen Gleichungen der Chaostheorie die Basis. Plötzlich sehen wir, wie sich bei 10’000-mal wiederholten Berechnungen aus der heutigen Situation heraus ein ganzer Fächer von möglichen künftigen Entwicklungen öffnet. Aber auch diese weit entwickelten Simulationen können das Auftauchen der berühmten ‘Schwarzen Schwäne’ nicht erklären.

In der Atomphysik wurde an der Einheitlichen Feldtheorie gearbeitet, in der Hoffnung, die grosse Weltformel zu finden und zu verstehen, wie die atomaren Kräfte Materie und Energie im Universum definieren. Mit der Superstringtheorie versuchte man, den subnuklearen Raum zu durchdringen. Die Berechnungen und Versuche an Kernforschungszentren bestätigen im großen Ganzen die Annahmen unseres physikalischen Standardmodells und der Relativitätstheorie. 

Die Theorie komplexer Systeme hat sich über die Jahre spezialisiert. Sie ist breit und unübersichtlich geworden. Sie erreicht dafür in ihren einzelnen Anwendungen erstaunlich genaue Resultate.

Beispiele für komplexe Systeme sind beispielsweise der Mensch selbst, sein Gehirn, sein Nervensystem, das Klima, junge Startups, eine Menschenmenge, Religionen, die Finanzmärkte, das Internet etc. Wir sind umgeben von solchen Systemen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht vereinfacht werden können, wenn man ihre Dynamik verstehen will. Sie verhalten sich äußerst dynamisch und gelegentlich sprunghaft. Das Klima kippt, eine friedliche Bürgerbewegung artet in Straßenschlachten aus, elektronische Währungen oder Bullenmärkte bilden Blasen und zerfallen.

Komplexe Systeme haben eine Reihe von Eigenschaften, die in einfacheren Systemen nicht vorkommen. Dazu gehören ein Maß an Selbstorganisation, das gewissen Mustern folgt. Diese Muster folgen aber nicht einer einfachen, linearen Logik. Sie verhalten sich nicht-linear. Beeinflusst werden sie von wiederkehrenden Mustern und Zuständen eines Systems, den Attraktoren. Auch ein Ameisenbau mit Millionen von Ameisen entwickelt immer wieder ähnliche Strukturen.

Wechselbeziehungen im Innern und zwischen Systemen können ganz verschiedene, scheinbar zufällige Entwicklungen hervorrufen. Man spricht von dem Schmetterlingseffekt. Die Freude und das Jauchzen einer Person, eine Revolution oder ein Erdbeben in Kalifornien können Verhaltensmuster erzeugen, die scheinbar von den darunter liegenden Elementen unabhängig sind. Man spricht bei solchen Phänomenen von Emergenz. Die Entstehung von Leben ist ein solches Phänomen.

Die vielfältigen Wechselwirkungen in einem komplexen System können im Allgemeinen nur ablaufen, wenn dem System ständig Informationen und Energie zugeführt werden. Bleiben diese aus, zerfällt es. Im Gegensatz zu komplizierten Systemen sind komplexe Systeme also nicht von Natur aus stabil. Sie sind ständigem Wandel unterworfen. Man spricht von Fließgleichgewicht und Metastabilität.

Der Wandel in Systemen kann vorbestimmt sein. Planeten z.B. folgen deterministisch ihrer vorhersagbaren Bahn. Er kann aber auch chaotisch sein, also nicht-linear (Stochastische Systeme). Aber auch im Chaos kommt es zu einigermassen vorhersagbaren Mustern, wie wir am Beispiel des Ameisenhaufens gesehen haben.

Das System folgt einem Pfad, wenn es in einen neuen Zustand übergeht. Findet es im neuen Zustand kein Gleichgewicht, ist es durchaus möglich, dass es über den gleichen Pfad wieder in den alten Organisations- bzw. Energiezustand zurückkehrt. Die Dynamik eines komplexen Systems folgt also nicht festen Regeln, aber gewissen Wahrscheinlichkeiten. Beim Wachstum von Firmen bei guten Rahmenbedingungen und ihrem Schrumpfen in Krisenzeiten können wir das immer wieder beobachten.

Welche Systeme entsprechen den Trigrammen im I Ging?

Die neue, ‘westliche’ Anordnung der Trigramme beginnt mit dem Trigramm Kun. Es steht für ein kühles oder kaltes System oder für ein System in einem kühlen oder unterkühlten Zustand. Aktivität ist in der Natur eng mit Wärme verbunden. Je höher die Temperatur, desto schneller schwingen die Moleküle fester Materie oder eines Gases. Wenn die Moleküle sich schnell bewegen, laufen Veränderungen viel schneller ab. Die Farbe auf der Leinwand trocknet schnell, die Hefe des Kuchens im Ofen lässt ihn aufgehen. Die heiße Luft dehnt sich aus und lässt den Heißluftballon steigen. Liegen das Energieniveau bzw. die Temperatur eines Systems tief, verändert es sich nur langsam oder ruht. Die Samen im Winter warten auf den Frühling, die Pizza im Tiefkühler bleibt gut, da die Bakterien sie nicht zersetzen können.

Hinzu kommt, dass es bei komplexen Systemen immer um ‘lebendige’, sich verändernde Systeme geht. Sie befinden sich in einem Fließgleichgewicht. Sie sind metastabil. Solange dieses Gleichgewicht gewahrt ist, können sie sich weiter verändern und an ihre Umgebung anpassen. 

Ein kühles oder unterkühltes System hat also alle Informationen und Energien für künftiges Wachstum bereit. Sobald es den entsprechenden Impuls, die Wärme des Frühlings, die zündende Idee in einer Gruppe von Menschen, empfängt, setzt dieses ein.

Der Übergang zum Wachstum ist eine besonders gefährdete Phase. Die eigenen Reserven sind noch klein, fremde Einflüsse viel stärker. Der Samen beginnt im Frühling zu keimen. Falls der Frost zurückkehrt, falls es zu viel oder zu wenig regnet, stirbt der Keim ab. Dies wird im Trigramm Kun symbolisiert, das für Wasser und Gefahr steht. In der Systemtheorie sprechen wir von einem instabilen System. Sein Fließgleichgewicht ist nicht widerstandsfähig. Es kann jederzeit aus der Bahn geworfen werden.

Überlebt der Spross die besonderen Gefährdungen der Anfangsphase, erhält das Wachstum Kraft. Das System schwingt sich auf. Die Temperaturen steigen, die Reaktionen beschleunigen sich. Dies wird im Trigramm Zhen beschrieben. Es steht für ein aufschwingendes System. Das Wachstum zeigt sich in Blättern und Blüten, in der Begeisterung von Menschen für eine neue Technik. Wir alle kennen diesen Zustand und freuen uns daran. Die einsetzende Bewegung kann so stark werden, dass sie uns Angst macht oder uns überwältigt.

Gerade der überbordende Verlauf von Wachstum führt uns zum Trigramm Qian, dass für ein heisses System steht.  Es wird von starker bis überbordender Energie charakterisiert. Wir spüren Menschen, die vor Energie strotzen, Jugendliche, die sich in Gruppen zusammenschließen, Verliebtheit, heiße Wut. Ein heißes System strahlt Energie aus. Es ist expansiv und will alles, und zwar jetzt gleich.

Im nächsten Trigramm Li werden die Strukturen der expansiven Phase ruhiger. Wir sprechen von einem stabilen System. Das Wachstum verliert an Schwung. Die jungen Triebe am Baum verholzen und werden widerstandsfähig. Sie verlieren dabei ihre Biegsamkeit. Ähnliches passiert, wenn soziale Bewegungen sich organisieren. Sie geben sich Statuten und Verfassungen und erhalten dadurch Dauer, sind aber nicht mehr so inspirierend wie in ihrer wilden Zeit.

Die Natur hat damit gewissermaßen ihr Ziel erreicht. Eine weitere Generation von Bäumen, Katzen, Walfischen und Menschen ist erwachsen geworden. Es herrscht Zufriedenheit und Offenheit. Dafür steht das Trigramm Dui, das einem offenen System entspricht. Es weiss, für was es steht, es ist im Fließgleichgewicht. Es kann sich ausdrücken und kommunizieren. Seine Argumente überzeugen, ohne dass sie auswendig gelernt werden müssen. Das verdient Heiterkeit und Feste.

Mit Dui wird der Höhepunkt der Entwicklung überschritten. Alle komplexen Systeme haben einen Lebenszyklus. Irgendwann nimmt die Energie wieder ab. Ohne Auf- und auch wieder Abschwingen würde die Natur aus den Fugen geraten. Übermässiges Wachstum führt zu Plagen. Kann die Natur sie nicht wieder ins Gleichgewicht bringen, wirken sie zerstörerisch. Im Trigramm Xun, dem Zeichen für ein Abschwingendes System, steckt deshalb viel Notwendigkeit und Weisheit. Es geht um das Altern, um das Planen eines geordneten Rückzuges und um die Frage, wie man seine Unternehmungen zum Abschluss bringen kann.

Gelingt dies, was nicht selbstverständlich ist, tritt Ruhe ein. Es geht um Regeneration, darum, eine nächste Generation von sich immer wiederholenden Zyklen vorzubereiten. Ausgedrückt wird dies im Trigramm Gen, einem sich schließenden System. Es zieht seine äußeren Grenzen zurück und verliert an Kraft. Damit eröffnet es die nächste Chance und den nächsten Zyklus.

Der Zyklus der Trigramme

Beim Abgleich von I Ging und Systemtheorie ergibt sich eine neue Anordnung der Trigramme. Sie bildet den Lebenszyklus einer Situation vom Anfang bis zum Ende ab. In der Formungsphase einer Entwicklung (unteres, inneres Trigramm) finden wir die Trigramme: Kun / Kühles System – Kan / Instabiles System – Zhen / Aufschwingendes System. In der Realisierungsphase (oberes, äusseres Trigramm) wirken die Trigramme: Qian / Heißes System – Li / Stabiles System – Dui / Offenes System – Sun / Abschwingendes System. Mit Gen / Sich schließendes System schliesst sich der Yang-Zyklus und beginnt der nächste Yin-Zyklus.

Formung (Yin-Phase): Aus Stillstand und Ruhe heraus entwickeln sich die Keime neuer Ideen und Projekte. Dies führt zu Instabilitäten. Schritt für Schritt verfestigen sich die Ideen und gehen in die Planung von Aktionen über. Im Formungszyklus überwiegen die Yin-Linien.

Die Yin-orientierte Formung einer Situation spielt sich vor allem im Innern des Systems oder der Person ab. Nach außen wird noch wenig sichtbar. Vier von acht Trigrammen gehören zur Yin Phase. Wir können also davon ausgehen, dass ca. die Hälfte der Entwicklung einer Situation sich wenig beachtet im Innern einer Person oder eines Organismus abspielt.

Realisierung (Yang-Phase): Die Bilder, die sich im Innern geformt haben, werden sichtbar und verwirklichen sich, bis der Zyklus sich schliesst. Das Geschehen wird überwiegend durch Yang-Linien geprägt.

Die Realisierungsphase äußert sich dementsprechend in Bewegung, Tätigkeit, Aktionen, aber auch Aggression und Umwälzung. Zur Yang Phase gehören ebenfalls vier Trigramme. Das lässt vermuten, dass nun die andere Hälfte einer Entwicklung sichtbar und als solche begreifbar wird.

Zyklus 2

Zyklus der Jahreszeiten: Dieser Yin-Yang Zyklus entspricht den natürlichen Jahreszeiten: Ein kaltes System entspricht dem Hochwinter, ein instabiles System dem Vorfrühling. Ein aufschwingendes System wird durch den Frühling symbolisiert, ein heisses System durch den Frühsommer, ein stabiles System durch die Reife des Sommers. Mit dem offenen System treten wir in den Frühherbst ein. Ihm folgt der Herbst, der durch ein abschwingendes System charakterisiert wird, und der Frühwinter, wenn die die natürlichen Systeme sich schließen.

Unendliches Wechselspiel - gerichteter Fortschritt

Spannend sind die Denkmodelle, die hinter der jeweiligen Trigramm- bzw. Systemanordnung stehen. Während die Jahreszeiten allen Bewohnern der gemäßigten Breiten aus der täglichen Erfahrung bekannt sind, unterscheiden sich die Erklärungsmodelle für die Dynamik des Wandels fundamental. Während das chinesische Denken seit jeher vom unendlichen Wechselspiel zwischen Yin und Yang ausgeht, haben die westlichen Vorstellungen mehr mit gerichtetem Fortschritt und dialektischen Bewegungen zu tun. In unserem Verständnis von Dynamik konzentrieren sich der Christliche Heilsplan mit den Erkenntnissen der idealistisch-materialistischen Philosophie.

Die chinesische, hochdifferenzierte Wahrnehmung und Beschreibung der Wirklichkeit und ihres Wandels in den Hexagrammen erklärt die Doppelnatur des I Ging, das seit jeher sowohl als Orakel, als auch als Weisheitsbuch galt. Sie erklärt auch die Tatsache, warum östliches strategisches Denken im Allgemeinen dem westlichen, stark auf Pläne ausgerichteten Denken überlegen ist. Bei der Befragung des I Ging geht es in erster Linie um das Begreifen der Kräfte, die auf den Gegenstand der Frage einwirken. Die Beschreibung ihrer Art, ihrer Bewegungsrichtung und ihrer Stärke ist das vermeintlich geheimnisvolle Orakel.

In der ersten Kopernikanischen Wende mussten die Menschen im Westen zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht im Mittelpunkt des Kosmos stehen. Nun gehen wir erneut durch eine solche Wendezeit. Der westliche Mensch erfährt, dass er nicht allein die Krönung der Schöpfung ist, dass unsere errungenen Positionen schnell verloren gehen, und es keine Gewissheit von Entwicklungen mehr gibt. Dies führt zu massiven Verlustängsten in den alten, männlichen, industrialisierten Gesellschaften. Ein Rückgriff auf Denktechniken wie das YI Ging kann in einer solchen Situation viele Einsichten öffnen: das Einzige, was bleibt, ist das Verstehen des Wandels.

Spezielle Dynamik der Hexagramme und allgemeine Dynamik der Trigramme

Die Westliche Anordnung führt mit ihrer dynamischen Sichtweise auch zu einer neuen Anordnung der Hexagramme:

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Sowohl bei der vertikalen als auch bei der horizontalen Zuordnung der Trigramme zu den Hexagrammen folgen wir der Reihenfolge im Entwicklungszyklus der Trigramme. Richard Wilhelm hat in seiner Betrachtung über die Häuser im I Ging eine ähnliche Sichtweise eingenommen, geht aber im Sinne der Tradition von einer eher statischen Betrachtung aus. Es dürfte spannend werden, in Zukunft auch über dynamische Entwicklungslinien im Gesamtsystem der Hexagramme nachzudenken.

Nicht nur die Trigramme als solche, sondern jede einzelne Linie im Hexagramm, ihre Qualität, ihre Stellung, ihre Entsprechungen und ihre Beziehungen haben eine grosse Bedeutung. Dies führt dazu, dass die Dynamik der 64 Hexagramme unterschiedlich verläuft. Sie wird vor allem in den Kommentaren zu den 4096 möglichen Kombinationen von Wandellinien im I Ging erklärt und bietet in bildreicher Sprache viele Einsichten, wie sich dynamische Systeme wahrscheinlich verhalten werden. Im Kommentar zur Dynamik der Hexagramme der I Ging Bibliothek wird dies detailliert beschrieben.

Diese Regeln werden insbesondere in den 8 Hexagrammen sichtbar, in denen unteres und oberes Trigramm identisch sind. Hier können wir alle Phasen der jeweiligen Systementwicklung vom noch unbewussten Anfang über die Formung und Realisierung bis zum Ende des Zyklus verfolgen.

Die Dynamik der beiden Trigramme eines Hexagramms vermischt sich also mit der Gesamtdynamik des Zeichens. Das gleiche Trigramm in verschiedenen Hexagrammen kann verschiedene Qualitäten annehmen. 

Im Hintergrund erkennen wir trotzdem eine allgemeingültige Dynamik jedes Trigramms bzw. Systems über seinen Lebenszyklus hin. Sie zeigt sich – manchmal versteckt – wo immer ein Trigramm oder seine Wandlungslinien erscheinen und kann deshalb ergänzend bei der Interpretation von Hexagrammen und Wandlungslinien hinzugezogen werden. Sie wird im Kommentar zur Dynamik der Trigramme erläutert.

Wie hilft die Systemtheorie bei der Interpretation von Antworten des I Ging?

Der praktische Nutzen der Systemtheorie liegt darin, dass sie viele innere Zusammenhänge einer Fragestellung an das I Ging systematisch beleuchtet. Alle Elemente, die oben beschrieben wurden, können dabei angewendet werden, insbesondere das Nachempfinden der Qualitäten des einzelnen Trigramms und seiner Stellung im Lebenszyklus der Fragestellung. Daraus ergeben sich zum Beispiel die folgenden Fragen:

Wo steht das Frageobjekt in seinem Lebenszyklus? Schon ein erster Blick auf die Trigramme im Hexagramm zeigt, wo diese in ihrem Lebenszyklus stehen und was für Qualitäten sie haben. Geht es um aufschwingende oder schwindende Energie? Stehen die Trigramme in der Yin- oder in der Yang-Phase? Sind die Trigramme auf Aktion gerichtet oder geht es zurzeit eher um ein Nachdenken? Ist die Situation stabil oder droht Gefahr?

Wie steht es um die Formung der prägenden Ideen zur Fragestellung? Die Entwicklung Ihrer Fantasien, Ideen und Pläne zum Frageobjekt wird vor allem im inneren/unteren Trigramm gezeigt. Unter welchem Zeichen steht dieser Prozess? Wird er von Yin- oder von Yang-Zeichen geprägt? Wo liegt sein Wandlungspotenzial?

Wie steht es um die Realisierung der geplanten Aktionen? Hier sprechen wir die Realisierungsphase an. Sie zeigt sich insbesondere im äußeren/oberen Trigramm. Erfolgt die Verwirklichung Ihrer Ideen mit Kraft, oder nimmt die Energie bei der Realisierung bereits ab? Haben Sie eine stabile Situation vor sich oder müssen Sie sich in Acht nehmen?

Wo stehen die Trigramme im Yin/Yang-Zyklus? Unter dem Titel ‘Dynamik’ zeigt die I Ging Bibliothek die Stellung der Trigramme auf der Wellenlinie der Yin-Yang-Entwicklung. Je nach Hexagramm wandern sie auf der Sinuskurve hin und her. Wir sehen, ob sie sich in ihrer angestammten Phase bewegen oder nicht. Welchen Einfluss üben Yin-Zeichen in der Yang-Phase aus? Wie verhalten sich Yang-Zeichen in der Yin-Phase?

In welchem Verhältnis zueinander stehen die Trigramme im Hexagramm? Die Qualitäten der Trigramme können sich ergänzen oder gegenseitig unter Spannung setzen, sie können sich aufeinander zubewegen oder auseinanderstreben. Dies ist vor allem dort interessant, wo sie in Gegensatzpaaren wie heiss und kalt, stabil und instabil auftreten.

Die Kommentare zu den Hexagrammen und den Trigrammen in diesem Bereich der App bieten dazu weitere Anregungen.

I Ging und Systemtheorie – eine Brücke zwischen Ost und West?

Im Text des I Ging und seinen begleitenden Kommentaren, den sogenannten “Zehn Flügeln”, findet man eine unglaubliche Vielfalt von Erklärungsversuchen zum Wandel von Systemen. Wir können davon ausgehen, dass das Buch des Wandels die erste umfassende und systematische Abhandlung zur Theorie komplexer Systeme ist.

Aus der Wahrnehmung von Wandel in der Natur und im Menschen haben die besten Denker der alten Zeit versucht, den Wandel des gesamten Kosmos in verallgemeinernden, schwierigen Bildern zu erfassen. Diese können die westliche Sicht auf dynamische Systeme ergänzen und erweitern. Im Gegenzug öffnen die Erkenntnisse unserer Wissenschaft neue Zugänge zum Verständnis des I Ging und zur Interpretation von Befragungen.

 

Der vollständige Text des Kommentars zur Dynamik der Hexagramme und Trigramme kann in der Premium Version der I Ging Library heruntergeladen werden.

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